Wissenschaft

28.04.2014

AVWF in der Stressmedizin: Neue klinische Studie

In der Klinik Lipperland, die Teil des Reha-Zentrums Bad Salzuflen der Deutschen Rentenversicherung ist, wurden die Wirksamkeit und Einsatzmöglichkeiten von AVWF® in der Stressmedizin erstmals einer umfassenden klinischen Studie unterzogen. Die Forscher untersuchten dabei, inwieweit AVWF® im Alltag einer stationären psychosomatischen Rehabilitation einsetzbar ist, wie es seitens der Patienten erlebt wird und welche Effekte zu erzielen sind.

Bei der Frage nach der subjektiven Einschätzung von Befindensänderungen gaben 76 % der 70 Probanden an, ihr körperliches Befinden habe sich deutlich bis sehr deutlich verbessert, das psychische Befinden gaben sogar 83 % als deutlich bis sehr deutlich verbessert an. Im Vergleich zur Gesamtheit der übrigen Patienten lag diese Verbesserung über dem Durchschnitt.

Parallel zeigten sich Verbesserungen biologischer Parameter, die mit Stressverarbeitung in Zusammenhang gebracht werden: So verbesserte sich die optische und auditive Ordnungsschwelle („low-level-Funktionen“), es kam zu einer verbesserten vegetativen Balance mit einer ausgeprägten Reduktion des mittels der Herz-Raten-Variabilität (HRV) bestimmten Stressindex. „Wir haben aufgrund unserer Erfahrungen und der vorliegenden Ergebnisse die AVWF®-Methode als festen Bestandteil unseres Schwerpunktes Stressmedizin implementiert und werden im nächsten Schritt um eine weitere Differenzierung und Operationalisierung bei der Indikationsstellung bemüht sein“, erklärte Dr. Dieter Olbrich, ärztlicher Direktor der Klinik Lipperland.

 

stressmedizin

Auf Kollisionskurs – Wenn im Stress der innere Kompass nicht mehr funktioniert, ist der Crash programmiert.

 

Lesen Sie Details der Studie hier:

Einsatz von AVWF® in der Stressmedizin

Erfahrungen und erste Ergebnisse aus einer psychosomatischen Rehabilitationsklinik
von D. Olbrich u. D.-I. Olbrich (Rehabilitationszentrum Bad Salzuflen der DRV Bund, Bad Salzuflen) und  U. Conrady (AVWF® Zentrum, Blomberg)


1. Einführung

Die Klinik Lipperland ist Teil des Rehabilitationszentrums Bad Salzuflen der Deutschen Rentenversicherung Bund. In der Klinik Lipperland werden pro Jahr ca. 1600 Patientinnen und Patienten mit psychischen und psychosomatischen Erkrankungen rehabilitiert. Grundlage unserer psychotherapeutisch-psychosomatischen Behandlung ist neben der Psychotherapie eine fundierte organmedizinische Diagnostik und qualifizierte somatische Therapie. Dies trägt der Tatsache Rechnung, dass insbesondere in der psychosomatischen Rehabilitation häufig Patientinnen und Patienten zur Aufnahme kommen, die hier erstmals Kontakt mit einer psychosomatischen Sichtweise ihrer Beschwerden haben. So zeigen Daten unserer Basisdokumentation 2013, dass lediglich 15% unserer Patienten im Vorfeld bereits ambulante Psychotherapie machten, lediglich 28% überhaupt Vorerfahrung mit Psychotherapie in ihrer Krankheitsgeschichte gemacht hatten. Dies bedeutet, über gezielte Information und Berücksichtigung der Vorerfahrungen die Patienten dort abzuholen, wo sie zum Zeitpunkt der Aufnahme in unsere psychosomatische Reha-Klinik stehen. Hinzu kommt, dass die Patienten immer später in die Reha kommen und Arbeitsunfähigkeitszeiten von mehr als 3 Monaten bei 57% unserer Patienten zu finden sind.

Betrachtet man das Krankheitsspektrum der Patienten, so stehen mit 67% depressive Störungen an erster Stelle. Weitere häufige Krankheitsgruppen sind Angststörungen und phobische Erkrankungen mit 11%, Anpassungsstörungen mit 10% und somatoforme Störungen bei 8%.

Zum Verstehen dieser Erkrankungen sind neben psychodynamischen, verhaltensanalytischen, systemischen und organischen Faktoren Konzepte aus der Stressforschung von grosser Bedeutung, werden durch diese doch auch psycho-biologische Faktoren umfassend berücksichtigt (Hellhammer&Hellhammer, 2005). So findet sich sowohl bei psychogenen Krankheiten wie somatoformen Störungen, Depressionen und Ängsten ebenso wie bei scheinbar primär körperlichen Erkrankungen wie Adipositas, Typ-II-Diabetes und Bluthochdruck chronischer Stress als wesentlicher mit auslösender Faktor, der letztlich dazu beiträgt, die individuelle Regulationsfähigkeit eines Menschen zu überfordern (Wippert&Beckmann, 2009; Schandry, 2011).

Vor diesem Hintergrund haben wir seit 2013 in Diagnostik und Behandlung psychosomatischer und somatischer Erkrankungen unserer Rehabilitanden der „Stressmedizin“ einen besonderen Stellenwert eingeräumt (Olbrich 2013).

Neue diagnostische Angebote sind dabei die Bestimmung der Herzratenvariabilität (HRV) und in Kooperation mit dem Stresszentrum Trier NeuropatternTM-Diagnostik bei ausgewählten Indikationen (Hellhammer et al., 2012). Hier wird neben der HRV Messung das Tagesprofil von Cortisol und die Prüfung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinde (HHNA-Achse) als Hinweis auf die Regulationsfähigkeit des Stresssystems gemessen. Die Befunde werden schematisch in einer „Stresstriangel“ dargestellt, die anzeigt, ob glandotrophe, ergotrophe und trophotrophe Stresssysteme in Balance sind (Boyle&Hellhammer 2013).
Als stressbezogene Behandlungsangebote bieten wir bisher schon Entspannungs- und Achtsamkeitsverfahren, Bewegungstherapie mit Ausdauertraining und Psychoedukation an. In ressourcenorientierten Basisgruppen lernen Patienten Verfahren zur Förderung der Selbstwirksamkeit und Selbstregulation. Im Fokus steht dabei das ressourcenorientierte Selbstmanagement nach dem Zürcher Ressourcenmodell (ZRM®) (Storch & Krause 2007).

Als neue, spezielle Methode zur Beeinflussung von chronischen Stressfolgen und eingeschränkter vegetativer Regulation haben wir zur Erprobung die Audiovisuelle Wahrnehmungsförderung (AVWF® n. U. Conrady) mit in unser Behandlungsprogramm aufgenommen (Conrady 2012).

Wir bieten damit unseren psychosomatischen Rehabilitanden mit stressassoziierten Erkrankungen neben den an den Rehabilitationsstandards orientierten Behandlungsangeboten spezielle stressmedizinische Interventionen an, die in dieser Form unseres Wissens nach in keiner anderen Institution vorgehalten werden.

 2. Beschreibung der Methode

Der Entwickler der AVWF® hat die Methode zunächst zur Lernförderung bei Kindern und Jugendlichen mit Störungen der Aufnahmefähigkeit und Konzentration entwickelt. Seit 2007 wird AVWF® regelhaft im Hochleistungssport zur Wettkampfvorbereitung und zum Neuro-Coaching genutzt (Conrady 2012).

Ausgehend von der polyvagalen Theorie von Porges (Porges, 2010) werden dazu Schallwellen in Musikstücken derart frequenzmoduliert, dass sie über die Mittelohrmuskulatur und deren afferente Nervenfasern das autonome Nervensystem (ANS) stimulieren und die sympathico-vagale Balance fördern.

Die polyvagale Theorie von Porges geht von der Tatsache aus, dass die Stressreaktion als generalisierte Anpassungsreaktion zu verstehen ist, die entwicklungsgeschichtlich dabei geholfen hat, eine Spezies überleben zu lassen und sich den Anforderungen, die sie umgeben, anzupassen. Um Stress bewältigen zu können, bedarf es komplexer biologischer Systeme, die zentral im Gehirn koordiniert werden und sicherstellen, dass Menschen „mit allen Sinnen“ wahrnehmen, ob eine Situation ungefährlich oder gefährlich ist. Porges nennt dies die „Neurozeption“. Wird aufgrund neurozeptiver Signale aus der Körperperipherie und der Umgebung eines Menschen Gefahr signalisiert, laufen reflexhaft automatisierte Programme ab, die Menschen dabei helfen, stresserzeugende Situationen bestmöglich zu bewältigen.

Wesentliche biologische Systeme in der Regulation von Stress sind neben dem endokrinen System (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindenachse) die beiden Anteile des autonomen Nervensystems (ANS), der Vagus und der Sympathikus. Porges hat in seiner polyvagalen Theorie dargestellt, dass sich im Laufe der Entwicklungsgeschichte drei Stufen der Stressregulation von Säugetieren entwickelt haben, die wie folgt charakterisiert sind:

1. Die basalste, entwicklungsgeschichtlich älteste Stufe der Stressregulation wird vermittelt über den dorsalen, nicht myelinisierten Vaguskomplex und ist in dieser Form schon bei Reptilien zu finden. Typische Reaktionsmuster sind passive Adaptation und Immobilisation („Totstellreflex“).

2. Das über den Sympathikus vermittelte Mobilisationssystem ist besser bekannt als „Kampf-und Fluchtsystem“. Es führt zu einer Aktivierung des Organismus, um genügend Energie für Kampf oder Flucht zur Verfügung zu stellen.

3. Das entwicklungsgeschichtlich jüngste und differenzierteste Stressbewältigungssystem gibt es nur bei Säugetieren. Neuroanatomisch ist dies gebunden an den ventral gelegenen, myelinisierten Vaguskomplex, der wesentlich zur Selbstberuhigung und kognitiven Bewältigung von stressbezogenen Situationen beiträgt. Porges nennt dieses System „soziale Kommunikation, Engagement und Fürsorge-SSE“. Die ventralen Vaguskerne sind eng verbunden mit Hirnnervenkernen, die für Hören, Vokalisation und mimische Muskulatur verantwortlich sind. Ziel dieses hochentwickelten Systems ist die Neuroprotektion und Stabilisierung autonomer Prozesse, die Förderung einer kardialen respiratorischen Sinusarrhythmie, die Schaffung sozialer Verbindungen und Interaktionen, die dazu führen, dass Menschen sich sicher fühlen und in der Lage sind, sich selbst zu beruhigen. Dies ist Grundlage für eine erfolgreiche Stressbewältigung.

Vor diesem Hintergrund wird bei AVWF® über die frequenzmodulierten Schallwellen indirekt der ventrale Vagusanteil stimuliert, der die fein abgestimmte schnelle Vagusregulation moduliert, die Selbstberuhigung und die dafür notwendige soziale Verbindung fördert. Die Patienten hören über speziell entwickelte Kopfhörer Musik unterschiedlicher Stilrichtungen.

Das Besondere an der Musik sind die modulierten Frequenzen, etwas, was für unser normales Gehör nicht wahrnehmbar ist. Durch die zunehmende Frequenzmodulation wird im Bereich des Hirnstammes und hier insbesondere der ventralen Vaguskerne eine Stimulation erzeugt, die dazu führt, dass es den Patienten gelingt, ein Gefühl von Sicherheit und Selbstberuhigung zu erleben. Durch diese positive Beeinflussung und Selbstberuhigung sollen Effekte auftreten, die sich im Alltag durch eine Erhöhung der Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung des Gehirns bemerkbar machen (Förderung der sogenannten „Low-Level-Funktionen“) und zu einer Förderung der Konzentration und mentalen Leistungsfähigkeit führen.

Die AVWF®-Methode ist in den vergangenen Jahren ausgesprochen erfolgreich beim Coaching von Hochleistungssportlern zum Einsatz gekommen. Gleichwohl gibt es nur wenige empirische Daten zum Einsatz im klinischen Bereich, wo AVWF® bisher vorwiegend bei chronisch neurologischen Erkrankungen eingesetzt wurde.

Vor diesem Hintergrund wollten wir die AVWF®-Methode im Rahmen unseres Schwerpunktes Stressmedizin als spezifische Intervention bei stressassoziierten Erkrankungen in die Klinik einführen, die Durchführung erproben und Effekte erfassen.


3. Indikationsstellung und Patientenstichprobe

Als psychosomatische Rehabilitationsklinik haben wir eine heterogene Patientengruppe. Gemeinsam ist allen, dass sie im Erwerbsleben stehen, die Erwerbsfähigkeit durch Krankheitsfolgen gefährdet ist, ambulante Behandlungsmöglichkeiten nicht ausreichen oder ausgeschöpft sind und neben einem Behandlungsauftrag auch die Frage der sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung zu klären ist.

Aus unserer Basisdokumentation wissen wir, dass 75% unserer Patienten weiblich sind. 67% leiden an depressiven Störungen (F3). Die durchschnittliche Behandlungszeit liegt bei 38 Tagen.

Im Rahmen unserer AVWF®-Erkundungsstudie haben wir nach klinischer Aufnahmeuntersuchung, biographischer Anamnese, Leitsymptomatik und Rehabilitationszielen der Patienten die Indikation für AVWF® gestellt.
Dabei waren folgende klinische Leitsymptome für uns im Vordergrund:

– Patienten beklagen subjektiv erhöhtes Stresserleben;

– biologische Faktoren und/oder Parameter sprechen für eine stressassoziierte Erkrankung; z.B. Metabolisches Syndrom, Typ-II-Diabetes, labiler Bluthochdruck, eingeschränkte Herzratenvariabilität ohne organische Ursache und nicht durch Medikamenteneffekte begründbar;

– Patienten geben an, sich selbst nur schlecht oder gar nicht beruhigen zu können;

– Patienten beklagen als Leitsymptom Schlafstörungen.

Keine primäre Rolle bei der Indikationsstellung spielte die F-Diagnose; einzige Ausnahme waren Patienten mit anhaltend somatoformen Schmerzstörungen (F45.4), die wir aufgrund der Vorerfahrungen des Einsatzes der Methode bei chronischen Schmerzpatienten nicht mit AVWF® behandelt haben. Weitere Ausschlusskriterien gab es keine. Sämtliche Patientinnen und Patienten wurden in einem ärztlichen Vorgespräch über die Methode und die Anwendung informiert. Es wurde ihnen ein Merkblatt ausgehändigt und sie gaben ihre Zustimmung zu der Behandlung. Unsere Patientenstichprobe bestand aus 66% Frauen. Dies sind weniger Frauen als im Schnitt der Gesamtklinik (75%). Diagnostisch fanden wir bei 61% depressive Erkrankungen (F3-Diagnosen), gefolgt von Angststörungen (13%) und psychogenen Anpassungsstörungen (9%). Somatoforme Störungen fanden sich bei 4% der Patienten. Diese Verteilung entspricht hinsichtlich depressiver Syndrome dem Schnitt in der Klinik. Patienten mit somatoformen Störungen sind unterrepräsentiert, weil wir somatoforme Schmerzstörungen ausgeschlossen hatten.

4. Praktische Durchführung
Die AVWF®-Stimulation führen wir in der Klinik wie folgt durch: Die Anlage der Kopfhörer und die Einstellungen der jeweiligen Musik werden von speziell in der Methode geschulten Mitarbeiterinnen aus dem Bereich medizinisch-technische Assistenz und psychologisch-technische Assistenz durchgeführt. Diese sind mit den theoretischen Grundlagen der AVWF®-Methode vertraut gemacht worden, haben die praktische Durchführung an Probanden und eigener Erfahrung erlernt und wissen um Besonderheiten in der Anwendung. So ist z.B. bei Patienten die Hörschwelle unterschiedlich, so dass die subjektiv wahrgenommene, angenehme Lautstärke individuell eingestellt werden muss.

Darüber hinaus ist aus der Anwendung bekannt, dass autonome vegetative Reaktionen als Nebeneffekt möglich sind wie z.B. eine tiefe Entspannung bis hin zum Schlaf, Gefühl von Schwerelosigkeit und andere körperliche Reaktionen, die im Kontext von Affekten auftreten können. Es erinnert dies an die von Damasio (1993) beschriebenen „somatischen Marker“ (Storch&Krause, 2007). Die im Kontext der AVWF®-Methode auftretenden Reaktionen werden meist als positive somatische Marker wahrgenommen, so dass eine Behandlungsbeendigung deswegen nicht erforderlich ist. Allerdings ist es wichtig, dass die Assistentinnen damit vertraut sind und Patienten entsprechend informieren können, damit diese das Erlebte auch kognitiv einordnen können.

Zeitgleich hörten drei PatientenInnen die schallmodulierte Musik. Wir haben eine Vorauswahl der Musikrichtung für die 10 Sitzungen vorgenommen, so dass alle Patienten, die AVWF® erhielten parallel dieselbe Musik und denselben Modulationsgrad hatten. Dies diente der Standardisierung in der Erkundungsphase. Alle 14 Tage startet eine neue, geschlossene Gruppe. Grundsätzlich wäre auch eine höhere Gruppengröße möglich; wir haben uns aus inhaltlichen und organisatorischen Gründen in der Erkundungsphase auf Dreier-Gruppen beschränkt. Die 10 AVWF®-Sitzungen wurden in zwei Wochen jeweils von Montag bis Freitag durchgeführt.

5. Messinstrumente
Daten aus der psychosomatischen Basisdokumentation:
o Geschlecht
o Alter
o Hauptdiagnose (ICD-10)
o Dauer der stationären Behandlung
o psychische Symptombelastung am Anfang und Ende (SCL-90) (Franke, 1995)
o Messung der chronischen Stressbelastung bei Aufnahme (TICS = Trierer Inventar zur Messung von chronischem Stress) (Schulz et al. 2004)
o Selbsteinschätzung der Befindens-und Symptomänderung zum Entlassungszeitpunk (PSY-BADO)
o Experteneinschätzung zur Veränderung der Beeinträchtigungsschwere durch die psychische Erkrankung (mit dem BSS = Beeinträchtigungs-Schwere-Score n. Schepank) (Schepank, 1995)

biologische und neuropsychologische Daten:
o Bestimmung der optischen und akustischen Ordnungsschwelle (Katerij 2005) mit dem Brain-Boy® bei Aufnahme und Entlassung
o Bestimmung der Herzratenvariabilität (HRV) vor und nach AVWF® mit dem HRV-Scanner der Fa. biosign (www.biosign.de) Messzeitpunkte: prä 2 Tage vor und post 3-4 Tage nach Abschluss von AVWF®.

In die Auswertung gingen ein:
– der Stressindex als Pauschalmass für eine eingeschränkte vegetative Regulation (Dokumentation zum HRV Scanner Fa. biosign, 2013)
– HF-Power als Maß für die vagale Regulation (trophotropes System)
– LF-Power als Maß für den die sympathische Aktivität (ergotropes System) und
– LF/HF–Quotient als Ausdruck der vegetativen Balance. Niedrige Werte sprechen für eine gute parasympathische Regulation (Wittling&Wittling, 2012).

6. Ergebnisse
In die deskriptive Auswertung gingen insgesamt 70 Patienten und Patientinnen ein, die zwischen Juni 2013 und Februar 2014 zehn Sitzungen AVWF® erhielten. Dies entspricht 6% der Patienten, die während dieses Zeitraumes insgesamt rehabilitiert wurden. Es gab keine Patienten, die die Behandlung vorzeitig abbrachen oder nicht toleriert hätten.

Die mit dem TICS gemessene chronische Stressbelastung bei Aufnahme (Abb.1) war bei allen AVWF®-Patienten deutlich erhöht; am deutlichsten zeigte sich dies in den Skalen für Überforderung bei der Arbeit, soziale Spannungen, soziale Isolation und chronische Besorgnis. Da im TICS die chronische Stressbelastung bezogen auf die letzten 3 Monate bestimmt wird, war eine Kontrollmessung zum Entlassungszeitpunkt nicht sinnvoll. Dies wird weiteren katamnestischen Studien vorbehalten bleiben.

Abb1

Abb.1 chronische Stressbelastung vor AVWF®

Das Ausmaß der psychischen Gesamtbelastung bezogen auf die letzten 7 Tage (GSI-Wert im SCL-90) lag initial bei 1,27 und verbesserte sich im Verlauf um 0,4 Punkte (Verbesserung um 31%). Besonders deutlich zeigten sich die Verbesserungen in den Skalen für „Ängstlichkeit“ (38%), „Somatisierung“ (37%), „Depressivität“ (41%) und „Phobische Angst“ (43%). Wir analysierten die Daten aus der Veränderungsdokumentation im Rahmen unserer routinemässig durchgeführten Basisdokumentation (PSY-BADO):

Bei der Frage nach der subjektiven Einschätzung von Befindensänderungen gaben 76% an, ihr körperliches Befinden habe sich deutlich bis sehr deutlich verbessert, das psychische Befinden gaben sogar 83% als deutlich bis sehr deutlich verbessert an. Im Vergleich zur Gesamtpopulation der übrigen Patienten ist die Verbesserung über dem Durchschnitt liegend. Dies betrifft insbesondere die Verbesserung des psychischen Befindens.

Die Selbsteinschätzung der Patienten deckt sich mit der Fremdeinschätzung durch die Behandler mittels des Beeinträchtigungs-Schwere-Scores (BSS):

 

Abb2

 

Abb.2 Beeinträchtigungs-Schwere durch die Folgen der psychischen Erkrankung vor und nach AVWF®

Somit erreichen die Patientinnen und Patienten zum Entlassungszeitpunkt einen Schweregrad, der ambulante Behandlung möglich macht; ab BSS-Werten von 5 wird von behandlungsbedürftigen seelischen Erkrankungen ausgegangen, die allerdings mit Mitteln einer ambulanten Psychotherapie behandelbar sind.
Biologische und neuropsychologische Daten:

Bei allen Patienten bestimmten wir die auditive und akustische Ordnungsschwelle mit Hilfe des Brain-Boy®-Systems. Der Begriff der „Ordnungsschwelle“ wurde erstmals 1985 von Prof. Pöppel verwendet. Er hatte den Zusammenhang zwischen Ordnungsschwelle und sprachlicher Kompetenz erkannt. Es wurde schließlich in weiteren Forschungsarbeiten deutlich, dass die Ordnungsschwelle von der jeweiligen körperlichen und seelischen Verfassung kontextabhängig ist, hier insbesondere von Stress und Angst. Mittlerweile gibt es Ordnungsschwellen-Normwerte für „Gesunde“ und es wurden Untersuchungen dazu durchgeführt, inwieweit Veränderungen der Ordnungsschwelle Auswirkungen auf höhere kognitive Funktionen haben (KATERJI 2005). Die Ordnungsschwelle ist neben der sprachlichen auch für die zentral auditive Verarbeitung von Bedeutung.

Erhöhte Werte der Ordnungsschwelle weisen auf eine Einschränkung kognitiver und auditiver Funktionen hin und können in Verbindung gebracht werden mit erhöhtem Stresserleben; anders formuliert:

Chronischer Stress hat Auswirkungen auf höhere Hirnfunktionen.

Die Bestimmung der Ordnungsschwellen (sogn. „low-level-Funktionen“) lässt Rückschlüsse auf das Ausmaß der Beeinträchtigung zu.
Es sollte unter AVWF®-Behandlung zu einer Besserung der Ordnungsschwellenwerte kommen. Bei Messung der visuellen Ordnungsschwelle fand sich eine Verbesserung um 10,9%, die bei Frauen besonders deutlich ausfiel. Auch bei der auditiven Ordnungsschwelle zeigten Frauen eine deutlichere Verbesserung; insgesamt fand sich hier lediglich eine Verbesserung um 5,8%. Bei Bestimmung der optischen und akustischen Ordnungsschwellen ist in Untersuchungen auf eine hohe Standardisierung der Messsituation zu achten, da eine Variabilität gegeben ist, die auch vom momentanen affektiven Zustand der Patienten abhängig ist.

Bei allen Probanden wurde zu Beginn und nach Behandlung die Herzratenvariabilität (HRV) bestimmt. Hierzu nutzten wir das System der Fa. Biosign, das aus einer 5-minütigen Ruhemessung des EKG die HRV-Parameter errechnet. Die Messungen waren hinsichtlich des Vorgehens (Einhaltung von Ruhezeit vor der Messung; gleiche Tageszeiten; kein Nikotin am Untersuchungstag) standardisiert, die Patienten über Sinn und Ablauf der Untersuchung informiert.

Die Abb. 3 zeigt den Stressindex, der als Pauschalmaß für eine eingeschränkte vegetative Regulation steht. Im Durchschnitt reduzierte sich dieser um 101 Punkte, wobei es keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen gab.

 

Abb3

 

Abb. 3 Veränderung des Stressindex in der HRV Messung nach AVWF®
Die Frequenzanalyse der HRV bestimmt die einzelnen Frequenzbänder hinsichtlich Intensität und Ausprägung. Hohe Frequenzen (HF-Powerspektrum) sind ein Maß für die vagale Regulation, niedrige Frequenzen (LF-Powerspektrum) sind–mit Einschränkungen-ein Maß für die sympathische Aktivierung.

Abb4

 

Abb. 4 LF/HF Quotient als Hinweis auf die sympatho–vagale Balance

Die Abb. 4 zeigt, dass die LF/HF-Ratio als Hinweis auf eine erhöhte ergotrophe Regulierung des vegetativen Systems rückläufig ist, was an einer Reduktion des Sympathikotonus und Zunahme der parasympathischen Aktivität liegt. Dies kann als Hinweis auf eine Förderung des trophotrophen Systems und einer günstigeren vegetativen Balance gewertet werden, was von Patienten als deutliche Verbesserung der Fähigkeit, sich selbst zu beruhigungen erlebt und beschrieben wird.

7. Diskussion

Im Rahmen der Implementierung unseres Schwerpunktes „Stressmedizin“ haben wir 2013 als spezielle Intervention die AVWF®-Methode mit Hilfe ihres Entwicklers implementiert. Ab Juni 2013 haben wir in einer Erkundungsstudie erprobt, inwieweit AVWF® im Alltag einer stationären psychosomatischen Rehabilitation einsetzbar ist, wie es seitens der Patienten erlebt wird und welche Effekte zu erzielen sind.

Da im Rahmen psychosomatischer Rehabilitation ein komplexes multimodales Behandlungsangebot eingesetzt wird, ist die Erforschung einzelner Behandlungsbausteine methodisch aufwändig und schwierig. Insoweit kommt unseren Untersuchungen zunächst Pilotcharakter zu; es galt zu prüfen, wie die Einsatzmöglichkeiten im Klinikalltag sind.

Ausgangspunkt war neben der Bereitstellung des AVWF®-Systems durch den Entwickler eine ausführliche Schulung von medizinischen Fachangestellten, medizinisch-technischen und psychologisch-technischen Assistentinnen sowie dem gesamten Behandlungsteam. Sie erhielten Informationen über biologische Stressverarbeitungssysteme, die polyvagale Theroie nach Porges, bisherige Erfahrungen, Wirkungen und mögliche Nebeneffekte. Parallel wurde Informationsmaterial für die Patienten entwickelt.

Nach viermonatiger Schulung gelang die Implementierung von AVWF® in die komplexen Abläufe unserer psychosomatischen Rehabilitationsklinik sehr gut. Die Termine werden über unser Therapieplanungssystem verplant, so dass Überschneidungen mit anderen Behandlungen vermieden werden. Die Akzeptanz bei den Patienten war ausgesprochen hoch: Es kam zu keinem Behandlungsabbruch.

Einzelfälle, die an anderer Stelle ausführlicher beschrieben werden, machten deutlich, welch ausgeprägte Veränderungen unter der Behandlung möglich waren. Beispielsweise berichtete ein Patient, der seit fast 30 Jahren unter extremen Schlafstörungen litt, dass er nach der ersten Woche AVWF® erstmals seit dieser Zeit wieder einige Nächte habe komplett durchschlafen können und die Schlafqualität sich insgesamt deutlich verbessert habe.

Nebeneffekte, die einen Behandlungsabbruch durch uns erforderlich gemacht hätten, wurden bei keinem Patienten beobachtet.
Die Erfahrungen und Daten sprechen dafür, dass es sowohl hinsichtlich testpsychologischer Parameter, als auch in der Selbsteinschätzung der Patienten hinsichtlich einer Symptomreduktion zu einer deutlichen Verbesserung kam. Parallel zeigten sich Verbesserungen biologischer Parameter, die mit Stressverarbeitung in Zusammenhang gebracht werden: Die optische und auditive Ordnungsschwelle verbesserte sich („low-level-Funktionen“), es kam zu einer verbesserten vegetativen Balance mit einer ausgeprägten Reduktion des mittels der HRV bestimmten Stressindex.

Da wir keine Kontrollgruppe hatten, diente als Vergleichsgruppe die Gesamtheit der während dieses Zeitraums behandelten psychosomatischen Rehabilitanden. Bei mit AVWF® behandelten Patienten zeigten sich ausgeprägtere positive Veränderungen als bei den übrigen Rehabilitanden. Einschränkend ist weiter darauf hinzuweisen, dass wir im Rahmen der Erkundungsphase keine randomisierte Kontrollgruppe hatten und chronische Schmerzpatienten nicht mit AVWF® behandelt haben.

Die Indikationsstellung zur AVWF® Behandlung erfolgte durch erfahrene Kliniker (Facharztstandard) und orientierte sich an dem Leitsymptom „Stresserleben“. Das diagnostische Spektrum reichte von Patienten mit depressiven Störungen über Angsterkrankungen, Anpassungsstörung bis hin zu somatoformen Störungen.

In diesem ersten Schritt wurde die praktische Anwendung und Implementierung der AVWF®-Methode in den Klinikalltag erprobt. Insofern handelt es sich um ein naturalistisches Studiendesign, das die deskriptive Beschreibung von Veränderungen zulässt. Uns ist bewusst, dass im nächsten Schritt nunmehr kontrollierte und randomisierte Studiendesign-Bedingungen notwendig sind, um spezifische Effekte der AVWF®-Methode erfassen zu können.

Wir haben aufgrund unserer Erfahrungen und der vorliegenden Ergebnisse die AVWF®-Methode als festen Bestandteil unseres Schwerpunktes Stressmedizin implementiert und werden im nächsten Schritt um eine weitere Differenzierung und Operationalisierung bei der Indikationsstellung bemüht sein.

 

 

Literatur:

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Hellhammer, D.H. & Hellhammer,J. (2005 )

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Katerji, D. (2005)

Veränderungen der Low-Level-Funktionen im Erwachsenenalter und und deren Zusammenhänge mit der peripheren auditiven Wahrnehmung und verschiedenen kognitiven Funktionen

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Porges, S.W. (2010)

Die Polyvagal-Theorie

Emotion, Bindung, Kommunikation und ihre Entstehung

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Schepank, H. (1995)

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Der Beeinträchtigungs-Schwere-Score Manual

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Schulz,P.; Schlotz,W.; Becker,P. (2004)

Das Trierer Inventar zum chronischen Stress (TICS) – Manual

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Schandry, R. (2011)

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Beltz, Weinheim

Storch,M. ; Krause,F. (2007)

Selbstmanagement – Ressourcenorientiert

Grundlage und Trainingsmanual für die Arbeit mit dem Züricher Ressourcenmodell (ZRM)

Huber, Göttingen